Im Jahre 1995 legte Dietmar Albrecht, seinerzeit Leiter der
Ostsee-Akademie in Travemünde und seit dem Dezember 2001 Leiter der Academia
Baltica in Lübeck, sein literarisches Reisebuch „Wege nach Sarmatien. Zehn Tage
Preußenland. Orte, Texte, Zeichen“ den Lesern vor. Vergessene Landschaften, vergessene Menschen, vergessene Geschichte
geraten in diesen Jahren in unsre Erinnerung, schreibt Albrecht zu Beginn. Die Seele erschrickt. Mühsam rekonstruieren
wir, was wir vergaßen. Die gelebt und gewirkt haben, lassen wir vorüberziehen.
Jahrzehnte und Jahrhunderte gerinnen zu einem Stück Gegenwart, in der wir ein
Teil unsrer selbst entdecken.
Dichter und Erzähler im Gepäck macht Albrecht sich auf den Weg
ins Preußenland, jene Landschaften zwischen Danzig und Memel, Rauwschen und
Lyck, oder, in der Topografie der heute dort Lebenden, Nach Gdańsk und
Klaipėda, Swetlogorsk und Ełk. Albrecht sucht die Traumhäuser aus
Holz und den eingefahrenen Weg ohne Gräben,
ohne Grenzen. Das geschriebene Wort hilft ihm Erinnerung dingfest machen.
Die „Wege nach Sarmatien“ sind seit geraumer Zeit vergriffen.
Vergriffen sind auch ihre Übersetzungen ins Litauische und ins Russische. Wir
greifen aus dem Reisebuch jene Passagen heraus, die Johannes Bobrowskis
literarischen Wegen im Kulmerland jenseits von Thorn oder Toruń und an den
Ufern der Memel, am Njemen oder Nemunas, folgen.
Nehmen wir uns Zeit. Gehen wir Bobrowskis Wege nach Sarmatien,
Wege in ein Land, das ferne leuchtet:
JOHANNES BOBROWSKI <DIE DAUBAS> II (1954-1958). WERKE 2 S.312.
Levins Mühle
Zwischen der Weichsel im Westen und dem Drewenzfluss im Süden
und Osten streckt sich das Kulmerland, Ziema
Chełmińska.
Es ist eines der zwölf Länder des Preußenlands, die ihre Namen erhielten nach
den zwölf Söhnen des fabelhaften Prussenkönigs Waidewuttis: Sambia das Samland, Nadrovia Nadrauen, Sudovia Sudauen,
Schalanovia Schalauen, Natangia Natangen, Bartonia das Barterland, Galindia
das Galinderland, Warmia das Ermland,
Pogesania das Hoggerland, Pomesania Pomesanien, Kulmigeria das Kulmerland und - nach dem
zwölften Sohn Lituo - Litthuania das
Litauerland.
Das Kulmerland ist eine Gegend alt und fromm, wo man, „sofern
man etwas besitzt, Geld oder Ehre, deutsch ist und stolz auf seine edle
Herkunft, die aber wiederum polnisch ist, doch das war früher“. Der Pole Konrad
von Masowien bietet 1225 dem Deutschen Orden das Land, verspricht sich
Befriedung. Die bekommt er. Das Kulmische Recht wird zum Grundgesetz des
Ordensstaates. 1466, im zweiten Thorner Frieden, fällt das Kulmerland an Polen,
1772 geht es zurück an Preußen, 1919 wiederum an Polen. Bei Polen ist es
seither geblieben.
Von Thorn fahren wir nordostwärts Richtung Olsztyn und Brodnica durch die Metastasen der Stadt. Gute zwanzig Kilometer
weiter schickt uns hinter Kowalewo
Pomorskie der Wegweiser nach rechts auf die Nebenstraße nach Gollub, Golub-Dobrzyń. Lieblich
könnte man solche Landschaft nennen: gewellte Fluren, Waldstücke, Alleen,
Siedlerland oftmals auf Sand, Einzelhöfe, viele Holzhäuser noch, manche den
Walm über den Traufen abgeflacht, Mehlsäcke unterm Vordach, Waldfrüchte im
Fenster.
In der bewegten Topographie und dem bunten Chaos der Dörfer
stehen die Ordensburgen wie Zinnsoldaten, gewaltige Kuben, auftrumpfend,
mächtig gepanzert und unbeweglich, in Pomerellen im Westen wie in Pomesanien im
Norden und hier in Gollub an der Drewenz im Kulmerland, wo der Blick weit
hinüberreicht nach Russisch Polen.
Auf einer Landzunge hoch über dem Städtchen Gollub, Golub-Dobrzyń, schiebt
sich Schloss Golau ins Bild, feste Burg seit 1300 mit der Kunst und dem Komfort
der Ordenszeit, quadratisch und aus Backstein massiv, Sterngewölbe und
Warmluftheizung, Maßwerkfenster und Arkaden. Die Kuppeltürmchen an den Ecken
des Quaders und die mächtige Attikawand sind Zutaten des 17. Jahrhunderts, und
in eben jenem Stil ist das Ganze sorgsam restauriert. Schloss Golau birgt ein
Museum, eine Art Hotel und in den Kellergewölben eine Beiz. Sommerliche
Ritterspiele auf dem Vorwerk heizen den Ordensherren kräftig ein.
Gollub zu Füßen des Schlosses wahrt sein mittelalterliches
Maß. Klassizistische Bauten und die Zutaten preußischer Gründerzeit haben die
Vorlaubenhäuser ersetzt. Die Pfarrkirche, wie üblich aus Backstein, hat sich
ein wenig vom Marktplatz der Kolonisatoren abgesetzt. Eine Brücke führt hinüber
nach Dobrzyń.
Gollub und Dobrzyń
haben sich zu einer Kommune verbunden über die Grenze Preußisch und Russisch
Polens hinweg.
An der Drewenz, Drwęca,
bei Gollub findet Johannes Bobrowski zum Stoff seines Romans „Levins Mühle“.
Hier steht der Großvater zu seinem Recht, als Deutscher und Baptist und „weil
man etwas hat: eine Mühle bei Neumühl, an einem rechten Nebenflüsschen des
Drewenzflusses, der immer im Polnischen, aber zwischen Deutschland und Russland
verläuft“:
Die Drewenz ist ein Nebenfluss in Polen.
Das ist der erste Satz. Und da höre ich gleich: Also war dein
Großvater ein Pole. Und da sage ich: Nein, er war es nicht. Da sind, wie man
sieht, schon Missverständnisse möglich, und das ist nicht gut für den Anfang.
Also einen neuen ersten Satz.
Am Unterlauf der Weichsel, an einem ihrer kleinen
Nebenflüsse, gab es in den siebziger Jahren des vorigen Jahrhunderts ein
überwiegend von Deutschen bewohntes Dorf.
Nun gut, das ist der erste Satz. Nun müsste man aber
dazusetzen, dass es ein blühendes Dorf war mit großen Scheunen und festen
Ställen und dass mancher Bauernhof dort, ich meine den eigentlichen Hof, den
Platz zwischen Wohnhaus und Scheune, Kuhstall, Pferdestall und Keller und
Speicher, so groß war, dass in anderen Gegenden ein halbes Dorf darauf hätte
stehen können. Und ich müsste sagen, die dicksten Bauern waren Deutsche, die
Polen im Dorf waren ärmer, wenn auch gewiss nicht ganz so arm wie in den
polnischen Holzdörfern, die um das große Dorf herum lagen. Aber das sage ich
nicht. Ich sage statt dessen: Die Deutschen hießen Kaminski, Tomaschewski und
Kossakowski und die Polen Lebrecht und Germann. Und so ist es nämlich auch
gewesen. [...]
Und die Deutschen - also Ragolski und Wistubba und
Koschorrek, um ein paar andere Namen zu nennen - wissen, dass es an der
Tüchtigkeit liegt, wenn man etwas hat, und die Polen denken, es kommt von der
Muttergottes. Aber freilich, die wirkt mehr ins Gemüt als ins Portemonnaie,
sagt man, und deswegen haben die Polen, sagt man, weniger.
JOHANNES BOBROWSKI, LEVINS MÜHLE (1963). WERKE 3 S.9F,16.
„Levins Mühle“ von 1963 hat es ebenso mit dem Osten wie die
zwei Jahre später und schon posthum erscheinenden „Litauischen Claviere“, die
weiter oben im Land an der Memel spielen. „Man weiß also, was man erwarten kann,“ äußert Bobrowski 1964, „ein
vielleicht etwas melancholisches Buch, in dem Deutsche mit ihren Nachbarn
agieren, diesmal den Polen; zusätzlich Zigeuner, jüdische Leute, Katholiken,
evangelische Sekten, ein italienisch-polnischer Zirkus.“ Die Handlung spielt in ein paar Sommerwochen des Jahres 1874,
das kein besonderes Jahr war, „keine Reichsgründung - nur deren Folgen, kein
polnischer Aufstand - nur die Erinnerung daran -, keine
Nationalitätengesetzgebung - nur deren Vorbereitung.“
Zum Schauplatz von „Levins Mühle“ verlassen wir den Markt in
Gollub dort, wo sich noch ein Laubenhaus erhalten hat, und halten uns
nordostwärts auf die Landstraße nach Strasburg, Brodnica, die dem hohen Ufer über der Drewenz folgt. Wir erreichen
die Feldflur, linkerhand ein paar Hügel, rechterhand Äcker und Wiesen, die sich
zum Fluss hin senken. Kurz bevor die Straße in die Schmugglerforsten dringt,
kreuzt sie ein Flüsschen. Lohrbach steht auf alten Karten, Struga heute: eine alte Steinbrücke, Eisengeländer, dichtbebuschte
Ufer, rechts ein Wirtshaus von früher, eine Art Speicher und Wagenremise, Młyn Handlowy
steht geschrieben, Handelsmühle.
Eine Allee alter Linden führt zum Mühlhaus über dem Bach.
Pferdefuhren, Trecker karren Säcke an, Arbeiter im Blaumann buckeln sie in den
Mühlraum. Das Mahlwerk wird elektrisch betrieben, der Durchfluss fürs Wasser
ist vermauert. Wir sind in Lissaumühle, Lissewo,
stehen vor Levins Mühle.
Ein paar hundert Meter den Wiesenbach hinauf liegt in weiter
Mulde Großvaters Neumühl, Nowy Młyn,
mit versumpften Teichen, verkrauteten Feldern, Kartoffeln, Rüben, rottenden
Wirtschaftsgebäuden. Der Großvater ist fort.
Die Geschichte um Levins Mühle erzählt der Zigeuner Habedank,
der im Gerichtsgefängnis der Kreisstadt Briesen sitzt, Wąbrzeżno.
Auch da hat besagter Großvater seine Hand im Spiel. Habedank und seine
Zellengenossen bringen die Ereignisse um Levin genau und sehr bündig auf den
Punkt:
Es ist ein Nebenflüsschen der Drewenz, ziemlich schnell, das
hat auf dem rechten Ufer zwei Stauteiche, die gehören zu der großen Wassermühle.
Die fest auf vierundzwanzig Pfählen steht, oder ruht, die mit Stützen und
Streben gestützt und verstrebt sind und mit Blech beschlagen gegen das Eis. Die
Mühle hat ein großes unterschlächtiges Rad und ein prima Mahlwerk, und zwei
Mann haben da gut dran zu tun. Und jetzt hat der Alte die beiden, wie ich hör,
weggejagt. Bloß sie sind noch nicht gegangen. Und die andere Mühle aber, die
ist klein, voriges Jahr schnell aufgestellt. Der Levin ist aus Rozan und hat
sich was angelernt mit Müllerei und gleich diese Mühle angefangen, ein
Stückchen flussab. Vier Pfähle bloß und Balken und Bretter und ein leichtes
Rad, weil das Wasser ein bisschen flach ist, und die Bude hat ziemlich
gewackelt, da hat er zwei Ketten angeschafft und sie gegen die Strömung verankert,
die Mühle, da ist sie über den Winter und bis ins Frühjahr gekommen, kann man
nur staunen. Und er hat hübsch Geschäft gemacht.
So ein Jud, sagt der Junge, kommt an mit dem blanken Arsch
und macht Geschäft.
Aber wieso! Gar nichts mit blanker Arsch. Mit Geld ist er
gekommen. Jedes Brett gekauft, mit Fuhrwerk von Gollub angefahren. Ich hab
Dübel gemacht und nachher die Verschalung, zwei Tage - war alles fertig.
Und erst kam keiner.
Warum auch? sagt der eine von Habedanks Zuhörern, der mit dem
Knebelbart, der diesen Rittmeister verdroschen hat in Wiezorreks Deutschem
Haus, diesen Herrn von Lojewski, den alten Saufaus. Da hat er wieder mal
dagesessen, dieser Rittmeister von früher, und groß geredet, dass sie das
deutsche Bier wegschmeißen an die Polacken, dass es keine Ehre mehr ist, wenn
sie das deutsche Bier für das gleiche Geld bekommen wie anständige Menschen,
dass es überhaupt nicht wahr sein kann, dass sie hier überall herumlungern
dürfen, diese Polacken wie Sand am Meer.
Also der mit dem Knebelbart hat ihn verdroschen, nicht so
sehr, und hat ihm einen Orden abgedreht und ihm mit dem Klimperding ein Muster
in den Kahlkopf gedrückt, weil der ein bisschen angelaufen war, vielleicht hat
es gekühlt. Deshalb jedenfalls sitzt er hier.
Aber was du da redest wegen einem Itzig, sagt der Knebelbart,
also na hör mal! Und der andere, der noch nichts gesagt hat bisher, sagt jetzt
auch etwas. Einer von denen, die überhaupt wenig sagen, dafür aber auch lauter
Mist.
Diese Juden, sagt er, haben Jesum ans Kreuz geschlagen, mit
Nägeln, Achtzöller. Er weiß das. Jetzt laufen sie rum auf der ganzen Welt, sagt
er, das Kainszeichen der Jesusmörder auf ihrer Stirn.
Das ist alles schon so alt, dass es aussieht wie eine
leibhaftige Wahrheit.
Er hat das so gesagt, der sonst nicht viel redet, ganz still
übrigens, ohne jeden Eifer. Er weiß es genau, er wird ja keinem dieser Juden
etwas tun wollen deswegen, er wird Gott nicht vorgreifen, der getreu ist und es
auch tun wird, wie es heißt, ersten Thessalonicher, und wenn er es tun wird, wird
er, der nicht viel sagt, dastehn und sich nicht verwundern, das musste ja so
kommen, höchstens vielleicht stellt er sich näher dazu, und vielleicht hilft er
noch ein bisschen nach.
Der Junge hat es auch schon mal gehört, natürlich, da wird es
schon stimmen, aber es stimmt doch wieder nicht. Wie ich in Gollub war, sagt
er, ist da ein Jud gewesen, so ein ganz altes Mannchen, den haben sie auf einem
Stuhl getragen, da sind von morgens bis abends Leute herumgestanden, wo er
hingekommen ist, da hat es keine Prozesse mehr gegeben in Gollub, das halbe
Jahr, wie er dagewesen ist in Gollub, mit allem sind sie gekommen. Wer weiß, wo
er jetzt ist?
Die drei Männer sagen nichts. Und der Junge denkt, mir hätte
der aber wohl nichts genützt. Der Junge ist nämlich Viehtreiber gewesen und hat
eine Kuh verkauft, die ihm nicht gehört hat, in Lissewo, und es ist gleich
herausgekommen. Da hätte es schon einer mit Geld sein müssen.
Dieser Levin, sagst du, ist mit Geld gekommen?
Und mit Fuhrwerk, sagt Habedank.
Und wie weiter?
Nu, wie weiter, sagt Habedank. Er hat Korn gekauft und
ausgemahlen und Mehl verkauft.
Und der Alte, der gemahlen hat gegen Lohn, wie überall, der
hat gesehen, wie jetzt auf einmal manche ihr Getreide verkauft haben an den
Levin, weil Bargeld knapp gewesen ist, weil es schon so gewesen ist, dass sie
die Steuer mit Ferkeln bezahlt haben, weil kein Geld dagewesen ist. Große Augen
hat der Alte gekriegt, wie er das gesehen hat, und ist herumgegangen, ewig im
Fluchens, und hat auch mal gesagt, dass er dem Jud schon zeigen wird - was, hat
er aber nicht gesagt.
Und im Frühjahr, morgens, auf einmal, ist die Mühle von
diesem Levin weg. Nur noch der Steg da und die beiden Pfähle, wo die Ketten
dran waren.
Na sag bloß! Der Knebelbärtige hat sich von der Pritsche
geschoben und stellt sich an die Wand. Und der andere, der Schweigsame, denkt
vielleicht auch nicht, dass sich da ein Wunder ereignet haben wird, er fragt
nämlich, wie das gekommen ist.
Dieser Schweigsame ist übrigens nur hier, weil ein anderer
Holz gestohlen hat, im Sägewerk König, er nicht, bei dem König schon gar nicht.
Na ja, das Wasser ist gekommen, sagt Habedank. Das hat man ja
sehen können, wie es gewesen sein muss. Die Teiche waren abgelassen, und vor
der großen Mühle hatte der Alte einen Staudamm gemacht, da war das Wasser schon
bis an den Rand gestiegen, und davor, flussab, trat schon der Sand heraus, so
flach war es. Da hatten sich schon alle gewundert, was das soll. Und dieser
Staudamm also war aufgerissen. Bloß nicht von selber. Hat man ja sehen können.
Aber wer macht denn sowas, sagt der Junge.
Na wer denn? Der Knebelbart grinst. Und was hat der Jud nun
gesagt?
Geklagt. In Briesen.
JOHANNES BOBROWSKI, LEVINS MÜHLE (1963). WERKE 3 S.131-134.
Johannes Bobrowski hat seine Geschichte einer Familienchronik
entnommen, die der Bauer Jahnke aus dem benachbarten Malken, Małki,
hinterlassen hat. Ein Johann Bobrowski, der womöglich der Familie, jedenfalls
aber der Landschaft unseres
Bobrowski zugehört, hat wahrhaftig 1874 jene Wassermühle Neumühl gekauft und
seinen Konkurrenten Lewin anderthalb Kilometer unterhalb weggeschwemmt. Nur -
jener Lewin hat sein Recht vor
Gericht erhalten, anders als der Levin des Romans, der vor dem Kungelspiel der
Deutschen - Landrat, Richter, Pfarrer, Gendarm - fortgeht zu den Seinen. Der
Großvater der Wirklichkeit wandert
ins Gefängnis und schließlich bettelarm nach Amerika.
Bobrowskis Variationen der Chronik aus Malken rufen
unterschiedliches Echo wach. „Sie verstehen, dass ich von Ihrer Darstellung
recht enttäuscht war. Ihr Großvater Ohnename ist eine kümmerliche Figur, zu
feige, um für seine Handlung einzustehen, ein dummdreister Bauer, der sich auf
Kosten von Außenseitern und Parias ein gemütliches Rentnerleben sichert. Und
das alles spielt sich ab unter dem Zeichen des Kulturkampfes und der
Germanisierungspolitik,“ schreibt im
Dezember 1964 Gerhard Bobrowski aus Marburg an seinen Vetter Johannes in
Berlin-Friedrichshagen. „Ich kann mir nicht denken, dass ein Dichter einen
solchen Stoff, wie ihn Jahnke geschildert hat, so entstellen kann.“
Ganz anders reagiert Hilde Anker aus Tel Aviv, die zur selben
Zeit wie Bobrowskis Vetter Gerhard an „Levins Mühle“ gerät: „Sagen sage ich gar
nichts, lieber Herr Bobrowski, denn mir blieb schon die Spuke weg, als ich in
der ‘Weltwoche’ (Zürich) über LEVINS MUEHLE las. Der Grossvater meines
verstorbenen Mannes war Mühlenbesitzer Michael Levin aus Lissewo. Und wer in
der Welt kennt überhaupt Briesen, wo ich vor jenen zig Jahren meine schönsten
Sommerferien verbrachte.“ Und weiter:
„Die hier lebenden Enkel von Grossvater Levin und natives aus Briesen und
Gollub behaupten zwar, Sie hätten die Chausseen in der Gegend etwas
durcheinander gebracht. Aber was bedeutet schon geographische Pedanterie gegen
die unverfälschten westpreussischen Ausdrücke! Na, und der spezifische
Kalmusduft geht mir überhaupt nicht mehr aus der Nase.“
Johannes Bobrowski war nie an der Drewenz, nicht dass wir
wüssten. Doch der Leser seines Romans ist zu Hause. Der Müller in Lissewo spricht tatsächlich deutsch,
wenn er guten Willen spürt. Die Chaussee nach Wrocki ist geteert und nicht mehr mit Kopfsteinen gepflastert. Wir
fahren sie wie der Großvater und Tante Frau zum Tauffest nach Malken und weiter
über Strasburg ins Preußenland.
Auch Briesen, Wąbrzeżno,
die Kreisstadt, ist geblieben. Alle Wege führen dorthin: von Gollub über Rypiń und Lipnica, von Wrocki ein Stück Richtung Małki/Brodnica
und dann linksab: „3800 Seelen, das Städtchen zwischen zwei Seen, Post,
Bahnhof, am Bahnhof gleich Hotel Thulewitz, zweimal jährlich Pferdemarkt.“ Häuser
kreuz und quer gebaut, Stallmauern, Holzzäune, ein Kreisnest staubig,
verschlafen und versunken. Der Markt schaut aus wie ein Heimatmuseum; Bäcker
Pehlke schließt seinen Laden, in Wiezorreks Kneipe steht die Tür auf, an der
katholischen Kirche linksab wohnt Onkel Sally, ein niedriges Steinhäuschen, das
Cheder, die jüdische Kinderschule.
Von der Südwestecke des Marktes in Briesen folgen wir der ulica Wolności zu den
Bauten aus Preußens Zeit, rotgeklinkert und wilhelminisch, Schule, Landratsamt,
Krankenhaus, Gericht: „Da stehn die Drei vor dem Portal, Levin, den die
Geschichte angeht, Habedank, der sich in sie hineinbegeben hat, Tante Huse, die
da mitreden wird. Jetzt gehen sie hinein in den roten Ziegelkasten. Levin hält
die Tür auf, Tante Huse schreitet voran, auf die erste Tür zu, klopft, räuspert
sich kurz, öffnet. Da sitzt Justizsekretär Bonikowski, alt und grau und endlos
lang wie ein dörflicher Erbstreit. Er nimmt den Finger aus dem Gesicht, er
sagt: Wird aufgerufen!“
Der Rechtsstreit wird zur Intrige. Das Dorf wehrt sich mit seinen Mitteln und inszeniert, Polen,
Zigeuner und auch manche Deutsche, Christen und Unchristen, seinen großen
Gesang zur Gala des italienischen Zirkus: Großes Wunder hat gegeben. Moses
wollt am Wasser leben. / Großes Wasser ist gekommen, hat ihn gleich
davongeschwommen. / Alle seine Siebensachen, hat er aber nichts zu lachen. / Wo
kam her das Wasser, großes, keiner weiß, auch nicht der Moses. / Aber hat man
nicht gesehen einen nachts am Wasser gehen? / Nachts, wo alle Menschen schlafen,
bloß die Frommen nicht und Braven. / Hei hei hei hei macht das Judchen ein
Geschrei.
Das verdirbt dem Großvater sein Recht. Er zieht nach Briesen,
in den Schutz der Stammtische und der Ressentiments. In Neumühl freilich wird
es still:
Die Deutschen und Frommen hat der Abzug meines Großvaters
durcheinander gebracht, am meisten wegen seiner offenbaren Grundlosigkeit. Und
die andern?
Lebrecht und Germann sind, nach amtlichem Zeugnis, deutsch
gesinnt, wenn auch vielleicht nicht gesonnen. Nieswandt und Korrinth können
wieder ein Arbeitsverhältnis nachweisen, da kann ihnen keiner.
Für Feyerabend, für Olga Wendehold, für den
Sadlinker Fenske ist der personifizierte Unfriede, mein Großvater also, auf und
davon, man redet nochmal darüber.
Tante Huse hört auch davon. Ihr ist er also nähergerückt.
Doch das ficht sie nicht an. Sie wird ihn mal besuchen.
Und die andern, da waren doch noch mehr?
Habedank sagt: Wo mag die Marie jetzt sein?
Vorige Woche ist Geethe aus Hoheneck wiedergekommen, hat dort
seine Wirtschaft aufgelöst, und hat gehört, die beiden sollen in Ciechanow
sein. Einer hat es erzählt, der es wissen kann, ein Ratzkefaller, so ein
Zigeuner, der Ratten- und Mäusefallen baut, aus Draht, und Töpfe flickt.
Wird schon stimmen, sagt Jan Marcin, fleißige Menschen. Man
weiß nicht, ob er Levin und Marie meint oder diese Ratzkefaller, die es überall
gibt.
Es hat sich alles versammelt in Jan Marcins Häuschen. Da ist
es hübsch voll, der bunte Hahn begrüßt seine Freundin Francesca, und Jan Marcin
ist ganz glücklich: die Kinderchen sind da. Der Italienische Zirkus in voller
Besetzung. Nächste Woche noch ein Gastspiel in Gollub, mit Gala-Schlussabend,
dann geht es ins Winterquartier, hier bei Jan Marcin. Und in Gollub werden
schon die neuen Zirkusleute dabei sein: Habedank, Geethe, Willuhn.
Eine große Musik.
Nur Weiszmantel nicht.
Nein, Kinderchen, sagt Weiszmantel, singt ihr man, singen
könnt ihr doch viel schöner. Er hält Jan Marcins Kater auf dem Schoß, kraut ihm
hinter den Ohren und auf der Stirn, da kann sich solch ein Tier ja nicht
lecken. Nein, Kinderchen, ich geh weiter, wir treffen uns schon nochmal.
Da zieht er davon, der alte Weiszmantel. Er wird singen, dort
und dort, überall, wo er Unrecht findet, davon gibt es übergenug, er wird also
übergenug zu singen bekommen. Manchmal sieht man es nur nicht gleich, weil der
Teufel seinen Schwanz drüberhält. Beim Kaplan in Strasburg wird er auch
hereinschauen, der Weiszmantel, da werden sie einen kurzen Abend reden. Da wird
der Kaplan Rogalla zum Schluss sagen: Welcher Deiwel hat mich geritten, dass
ich in dieses Nest gekrochen bin?
Und Weiszmantel wird antworten: Deiwel oder nicht Deiwel,
bleiben Sie man hier, besser als es kommt ein andrer.
Und Kaplan Rogalla wird schon wissen: Der Weiszmantel hat das
so an sich: spricht aus, was die Leute denken. Da sagt der Kaplan zum Abschied:
Gott wird Sie schützen, und: Kommen Sie wieder, Herr Weiszmantel.
Es ist Herbst. Und der Weiszmantel will nach Löbau hinauf.
Nicht direkt nach Löbau, mehr über die Dörfer, also nicht über Neumark und
Samplau, mehr östlich über Gwistzyn und Tinnewalde, in Zlottowo hat er einen
Bruder, dort geht er hin, aber das hat noch Zeit, bis zum Winter.
Er singt noch. Jetzt im Herbst.
Wie kommt es, dass seine Lieder fröhlicher geworden sind?
Es ist doch da etwas gewesen, das hat es bisher noch nicht
gegeben. Nicht dieses alte Hier-Polen-hier-Deutsche oder
Hier-Christen-hier-Unchristen, etwas ganz anderes, wir haben es doch gesehen,
was reden wir da noch. Das ist dagewesen, also geht es nicht mehr fort. Davon wird
der Weiszmantel wohl singen. Und Gott wird ihn schützen. Ihm wird es, denke
ich, ganz recht sein, so, wie es der Weiszmantel macht.
Da geht er, die Lappen um die Beine sind über Kreuz mit
Bändern beschnürt, Weiszmantel, der die Lieder weiß, und schwenkt ein bisschen
den linken Arm. Da lehnen wir am Zaun und sehn ihm nach, bis es dunkel wird.
Dort geht er noch, ganz in der Ferne.
Und nun überlege ich nur, ob es nicht doch besser gewesen
wäre, die ganze Geschichte weiter nördlich oder noch besser viel weiter
nordöstlich spielen zu lassen, schon im Litauischen, wo ich alles noch kenne,
als hier in dieser Gegend, in der ich nie gewesen bin, an diesem Fluss Drewenz,
am Neumühler Fließ, an dem Flüsschen Struga, von denen ich nur gehört habe.
Aber warum denn? Die Geschichte hätte an so vielen Orten und
in so vielen Gegenden passieren können, und sie sollte hier nur erzählt werden.
JOHANNES BOBROWSKI, LEVINS MÜHLE (1963). WERKE 3 S.220-222.
***
Christian Donalitius
Die alte Reichsstraße führt aus Gumbinnen, Gussew, ostwärts in Richtung
Stallupönen, Nesterow. Kahle
Ackerschläge begleiten die Chaussee. Fünf Kilometer hinter Gumbinnen fällt
linkerhand eine magere Baumpflanzung ins Auge; ein Schild weist zu einem
Gedenkort, der als Wüstung liegt: Gut Lasdinehlen, auf den letzten deutschen
Messtischblättern als Gut Altkrug vermerkt. Zwei Dutzend Bewohner zählt das Gut
zur letzten Jahrhundertwende, als - im April 1896 - die Familie des
Rittergutbesitzers und einige Litauerfreunde dem großen Sohn Lasdinehlens einen
Stein errichten. Ein Foto jenes Tages hat sich gefunden. Doch wo Häuser und
Gärten des Guts sich scharten, sind Bulldozer und Pflug drüber hin, kurz vor
dem Zusammenbruch der Sowjetunion noch, so wird erzählt.
In Lasdinehlen wird zum Jahresbeginn 1714 der Dichter und
Pfarrer Kristijonas Donelaitis geboren, latinisiert Christian Donalitius. In
der kulturellen Überlieferung Litauens leuchtet dieser Donelaitis als Held. Im
Frühjahr 1992 haben die Litauer ihm auf der Flur Lasdinehlens einen neuen Stein
enthüllt, einen Findling, litauisch und russisch beschriftet, und ihm - ein
Zeichen lutherischer Hoffnung - Eichen für einen Wald gepflanzt, der den
Nachgeborenen die Erinnerung an Donalitius lebendig halten soll.
Donalitius ist Sohn eines Freibauern, der nach Kulmer Recht
auf eigenem Grund und Boden sitzt. Etliche Beamte sind aus der Familie
hervorgegangen. Donalitius' Schulort ist unbekannt. Von 1732 bis 1737 studiert
er Theologie der pietistischen Richtung im Königsberger Seminarium Lituanicum,
dem hundert Jahre später Ludwig Rhesa vorstehen wird, wohnt dort im
Kneiphöfschen Collegium Albertinum. 1740 - Friedrich II. wird König in Preußen
- geht Donalitius als Kantor und Rektor nach Stallupönen, drei Jahre später
übernimmt er die Pfarre in Tollmingkehmen zwei Wegstunden von Stallupönen im
Nordwesten der Rominter Heide. Mit Anna Regina Ohlefant, der Witwe seines
Amtsbruders in Stallupönen, hält er die Pfarre bis zu seinem Tode 1780.
In Stallupönen-Ebenrode,
Nesterow, stehen die Häuser wie
sinnlos, haben kaum mehr als den Bahnhof zur Orientierung, den von Russland her
die Versorgungszüge und Truppentransporte für die Oblast Kaliningrad passieren. Am Bahnhof weist ein Schildchen
südwestwärts nach Tschistije Prudy,
Tollmingkehmen. Eine Abzweigung führt zum Gestüt von Trakehnen, Jasnaja Poljana, dessen Gründung ebenso
Ostpreußens Retablissement bezeugt wie die Ansiedlung der Salzburger in
Gumbinnen.
Nach gut zwanzig Kilometern durch Felder, auf denen die Natur
zu Atem kommt, erreichen wir Tollmingkehmen. Seine „germanische“ Verkürzung
Tollmingen steht groß und deutlich am Bahnhof.
Wie so viele Dörfer hierzulande hält auch Tschistije Prudy sich mühsam beisammen. Scheunen und Wohnhäuser
fallen ein, Kraut überwuchert die Gleise, ein Laden wie zufällig hingesetzt
bietet das Nötigste. Was hat die Menschen nach Tollmingkehmen geführt? Der Frau
ist ihr ukrainisches Dorf im Krieg verbrannt, der Mann floh ins gelobte Land
vor der Deportation nach Sibirien, heimatlose Kinder suchten Zuflucht, wo es zu
essen gab, Soldaten blieben, wo sie ihre Liebe fanden. Entwurzelt sind sie
alle, Russen, Kaukasier, Tataren, Ukrainer, Litauer, Polen auch, ab und an eine
Deutsche, die sich, ihr Leben zu retten, an einen der Sieger band. Dieses Dorf
war reich und unzerstört. Anders als die Siedler nach der Großen Pest gerieten
sie in ein fertiges Nest. Wurzeln haben sie noch immer nicht. Zufällig,
absichtslos, abwartend scheint ihr Leben. Niemand hat sie aufgeklärt über ihr
Dorf. Fragt man diese Menschen nach dem Namen des Flüsschens nebenan, zucken
sie die Schultern. Die Zeugen der Geschichte, die sie von den Dachböden und aus
den Gräbern holen, bleiben seelenlos. Beliebig sind sie, ohne Heimat, auf
versumpftem und versauertem Land.
Doch auf einem Hügel über der Schwentiske am Rand von Tollmingkehmen
überraschen Kirche und Pfarrhaus freundlich und heil. Litauer haben beide in
den siebziger Jahren wieder errichtet: weiß verputzt das Mauerwerk, rot das
Pfannendach, holzverschalt und gedrungen der Kirchturm mit einer Galerie
ringsum und einem Glockenhäuschen obenauf. Bis zur großen Wende ist die Kirche
in Tollmingkehmen die erste und einzige in der Oblast Kaliningrad, die aus ihren Trümmern neu erstand.
Das Innere ist schlicht: über dem Mittelschiff eine gewölbte
Holzdecke, die Seitenschiffe flach, eine Orgelempore, folkloristisch bunte
Fenster im Osten, inmitten die Kanzel, ein Altar fehlt. In eine Gruft unter dem
Altarraum hat man die Gebeine des Donalitius gebettet, die man gefunden zu
haben meint. Noch ist die Kirche Museum, bescheiden, verlegen fast. Ab und an
dient sie auch dem Gottesdienst.
Donalitius, Pfarrer von Tollmingkehmen, predigt und
schreibt deutsch und litauisch. Seinen litauischen Bauern ist er Seelsorger und
Entwicklungshelfer zugleich. Er schult sich im Gartenbau, schleift Glas, treibt
Optik und Physik, fertigt Barometer und Klaviere. Unerschrocken bietet er der
russischen Besatzung im Siebenjährigen Krieg die Stirn, flieht mit der Gemeinde
in die Heide. Mit den Amtmännern des Königs kämpft er um seine Pfarrländereien
und um den Bau eines Witwenhauses. [...] Anna
Regina Donalitius überlebt ihren Mann um achtzehn Jahre und kann ihr Witwenhaus
reichlich nutzen. Dessen Fundamente finden sich so, wie Donalitius überliefert,
hangabwärts von Pfarre und Kirche.
Dem Leben seiner Scharwerksbauern, die noch ihr Elend
umarmen, hat Donalitius seine Versdichtung „Metai“ gewidmet, die
„Jahreszeiten“, Bilder in antiken Hexametern, „Freuden des Frühlings“,
„Arbeiten des Sommers“, „Gaben des Herbstes“, „Sorgen des Winters“. Donalitius
will nicht idyllisch verklären. Er will seine Bauern belehren und ihnen dabei
die Freude am Leben nicht nehmen.[...]
Hätte Donalitius seine „Jahreszeiten“ in einer der großen
Kultursprachen geschrieben, er wäre in der Reihe der großen Dichter einer der
ersten, schreibt Ludwig Passarge zu seiner Übersetzung von 1894. Aus ihr
zitieren wir, verschweigt doch Ludwig Rhesa in seiner ersten Übersetzung von
1818 allzu deftige Passagen und andere, die den Litauern peinlich sein könnten.
Eine zweite Nachdichtung legt Heinrich Nesselmann 1869 vor, eine vierte und
letzte Hermann Buddensieg 1966.
Tollmingkehmens Pfarrer ergreift Partei für die Sprache und
das Brauchtum der Litauer. Seine Dichtung markiert den Aufbruch litauischer
Literatur und Kultur: „Gott geb' jeglichem auch, der unser Littauerland ehrt, /
Und der Sprache der Littauer treu hinziehet ins Scharwerk, / Gebe ihm Gott mit
jeglichem Jahr den beglückenden Frühling, / Und wenn die Zeit vorbei, den
heitern Sommer zu schauen.“(Passarge S.273)
In den Bildern „Aus Baltischen Landen“ von 1878 schildert
Passarge den alten Friedhof, der sich an die Tollmingkehmer Kirche schließt:
„Hie und da ragen bemooste Grabsteine mit verlöschten Inschriften aus dem
dichten Rasen. Kiefern, Ebereschen und Linden breiten ihren Schatten über den
Abhang des Hügels, an den sich die reiche Landschaft, ein weiter Wiesenplan mit
bunten Dörfern, Felder und Wälder anschließen. Den ganzen Hintergrund nimmt die
unabsehbare Romintensche Heide ein. Gern kehrt der Blick zu der einfachen Höhe
zurück, auf welcher unser Dichter begraben ist; doch kennt man sein Grab nicht
mehr. Unzählige Erdbeerblüthen bedecken den Boden, Bienen summen drüber hin,
warm ruht der Sonnenschein auf dem Rasen. Nachts aber schlägt die Nachtigall in
dem Flieder des Pfarrgartens, und ihr Gesang klingt klagend über die Ruhestatt
ihres Dichters, des littauischen Theokrit.“
Johannes Bobrowski, stets unser Gewährsmann, hat mit seinem
1965 erschienenen Roman „Litauische Claviere“ dem Tollmingkehmer Pfarrer
Eingang verschafft in die Literatur der Gegenwart: Konzertmeister Gawehn und
Professor Voigt reisen aus Tilsit zum litauischen Lehrer Potschka ins
Memelland, um Stoff zu sammeln für ein Opernlibretto der Jahreszeiten. In seinen dritten Gedichtband nimmt Bobrowski Verse
für Donelaitis auf:
Die Mittagsfeuer
verbrannt,
über der Linde Rauch,
dort geht er mit weißem Haar,
die Leute sagen:
Bald wird kommen der Abend,
einer beginnt den Gesang,
die Felder tragen ihn fort.
Komm noch ein Stück, Donelaitis,
der Fluss will sich heben mit Flügeln,
ein Habicht, ein Taubenfeind,
der Wald mit den schwarzen Häuptern
richtet sich auf, es ruft
windig über den Berg.
Dort leben die Gräser.
Auch dieser Tag fährt herab,
unter die Galgenschatten
der Brunnen, das Fensterlicht
windlos, das Kienlicht sagt
mäusestimmig
den Segen auf.
Du schreib über das Blatt:
Der Himmel regnete Güte,
und ich sah die Gerechtigkeit
warten, dass sie herabführ
und käme der Zorn.
JOHANNES BOBROWSKI, DAS DORF TOLMINGKEHMEN (1962). WERKE 1 S.165.
Tilsit
Von Ragnit, Njeman,
nach Tilsit, Sowjetsk, ist es ein
Katzensprung. Die Chaussee trifft auf den Fletcherplatz, Verkehrskreisel
Tilsits und Rampe zur Luisenbrücke. Seit 1907 führt sie die Straße über den
Strom. Ihr Südtor, Wahrzeichen des Tilsits der Gegenwart, darf beim
Wiederaufbau nach dem letzten Krieg bleiben. Hammer und Sichel haben das
Portrait der Königin ersetzt. An die stolze Zeit der Stadt, als die Königin
ihren Bittgang bei Napoleon tut und Kaiser, Zar und König 1807 den Frieden von
Tilsit schließen, erinnert seit 1992 ein Gedenkstein am Fletcherplatz,
dreisprachig französisch, deutsch und russisch. Fletcherplatz und Luisenbrücke
blieben in sowjetischer Zeit namenlos.
Das Schloss im Osten und die Deutsche Kirche im Westen der
Brücke sind fort. Fort ist auch das Rathaus ein paar Schritte geradeaus in die
Deutsche Straße hinein, ulica Gagarina.
Es stand am Nordende des Buttermarktes. An seiner Westseite, damals
Packhofstraße 7/8, ist ein schlichtes zweistöckiges Bürgerhaus geblieben, in
hellem Quaderputz, mit rotem Pfannendach und die Traufe zur Straße, vier
Fenster Front, zwei, drei Stufen zum Eingang hinauf - das Geburtshaus Max von
Schenkendorfs, 1783 geboren. Portrait und russische Inschrift neben der Tür erinnern
an den Dichter der Kriege, die Deutschland von der napoleonischen
Fremdherrschaft befreien.
Vor hundert Jahren setzt Tilsit seinem Sohn ein Paradedenkmal
auf den Platz, den die Stadt hinfort nach Schenkendorf nennt: Front zum
Rathaus, großer Gestus, Dichterpathos. Straße der Freundschaft - ulica Druschby - heißt der Platz heute,
und den gestuften Sockel Schenkendorfs haben die neuen Väter der Stadt ihrem
Lenin unterschoben, dort, wo die Hohe Straße vom Schenkendorfplatz her auf den
Anger mündet. Als ulica Pobjedy ist
sie zum Boulevard für die Bürger von Sowjetsk
geworden. [...]
Das Stadttheater im Norden des Tilsiter Angers, die
Gerichtsgebäude im Süden überdauern. Den Standort des Elchs hält ein T 34
besetzt. Wo die Hohe Straße vom Fletcherplatz her auf die Gerichtsbauten
trifft, biegt linkerhand die Clausiusstraße, ulica Lenina, ab. Wenige Schritte weiter nur passiert sie den
unscheinbaren Thesingplatz, der heute namenlos ist. Linkerhand biegt die
Grabenstraße ab, eine Mischung von Gewerbe und Bürgertum, beide sind sie im
Niedergang. Als Smolenskaja führt die
Grabenstraße auf den roten Klinkerbau des Gymnasiums zu, vor hundert Jahren und
auf Dauer hierher gestellt.
Wo die Grabenstraße sich vom Thesingplatz wendet, hält an
rotgetünchter Hausfront, unerreichbar hoch und in solidem Friedhofsmarmor, eine
Gedenktafel samt Portrait in Erinnerung, dass „in dieser Straße der bekannte
deutsche Schriftsteller und Kulturschaffende Johannes Bobrowski geboren wurde
und lebte“. 1992, zum 75. Geburtstag Bobrowskis, hat die Stadt Sowjetsk den Sohn Tilsits auf diese
Weise geehrt - und einen klugen Kompromiss geschlossen: die Schwester des
Dichters beharrt, im stehengebliebenen Haus Nummer 7 sei 1917 die Wohnung der
Bobrowski gewesen; die Museumsleute der Stadt berufen sich auf den Katasterplan
von 1921, der die Nummer 7 ans jenseitige Ende der Grabenstraße legt. Dort
klafft eine Kriegslücke.
Das Gymnasium am Ende der Grabenstraße dient weiter seinen
Zwecken; es bietet seinen Schülern erweiterten Deutschunterricht. Professor
Voigt aus Bobrowskis „Litauischen Clavieren“ könnte den Ausflug ins Memelland
hier erneut beginnen, mit Konzertmeister Gawehn aus dem Theater am Anger, beide
die Deutsche Straße mit dem Töpfermarkt hinauf zur Kleinbahn an der
Luisenbrücke.
Stadtauswärts Richtung Königsberg fügt sich in die linke Front
der Clausiusstraße, ulica Lenina, ein
weiß geputztes Mietshaus. Dort wohnt von 1933 bis zum Rückzug der Deutschen
Wilhelm Storost Vydūnas. Die Litauer von jenseits des Stroms
haben ihm zu Ehren sein Wohnhaus mit einer Bronzebüste geschmückt, litauisch
und russisch die Inschrift.
Wilhelm Storost ist in Jonaten, Jonaičiai,
bei Heydekrug geboren, jenseits der Memel, im einzigen Kreis Preußisch
Litauens, dessen Bewohner bis in die zwanziger Jahre mehrheitlich Litauisch als
Muttersprache nennen. Storost wird Missionar, Philosoph, Pädagoge, arbeitet als
Volksschullehrer in Kinten, Kintai,
am Gymnasium in Tilsit und als Dozent für litauische Sprache und Literatur an
der Berliner Universität. Ähnlich wie ein halbes Jahrhundert zuvor an der
jenseitigen Küste der Ostsee Nikolaj Frederik Severin Grundtvig als
Volksaufklärer für die Renaissance Dänemarks wirkt, wächst Storost zum
geistigen Führer der kulturellen und nationalen Wiedergeburt der Litauer im
Preußenland - als Chorleiter, Bühnenautor, Schriftsteller, romantisch und
idealistisch, oft fern der Wirklichkeit, stets lauter und asketisch. Vydūnas nennt
sich Storost, der „ins Innere Gewandte“.
Als Greis flieht Vydūnas mit den
Deutschen 1944 nach Westen, stirbt 1953 sechsundachtzigjährig in Detmold. Fast
ein Leben später wird seine Asche 1991 auf den Waldfriedhof am Rombinus
überführt.
Vydūnas mischt in seinem
schriftstellerischen Werk recht unorthodox Ost und West; seine Ideenwelt
erinnert an die Konventikler des Schaktarp,
der von unpassierbarem Eis eingeschlossenen Weiler im Delta des Stroms. Für die
Litauer im Memelland, Kleinlitauen, Mažoji Lietuva, steht
Vydūnas
als Symbol eines kulturellen und nationalen Lebens selbstbewusst und aus
eigener Kraft.
In Bobrowskis „Litauischen Clavieren“ wird Schulprofessor
Voigt aus Tilsit, der sich um das Libretto zu den „Jahreszeiten“ müht, zu
Johanni 1936 Zuschauer eines Dramas von Vydūnas, das die
Litauer zu ihrem Fest am Rombinus aufführen. Voigt gerät in ein Gespräch mit
Storost-Vydūnas
über Litauer und Deutsche im Preußenland:
Herr Storost, sagt er erfreut. Und dann: Habe mit dem größten
Interesse gelauscht. Ihr neues Werk, ich vermute doch richtig?
Wie man es nimmt, sagt Professor Storost. Stark gekürzt und
etwas frei bearbeitet, ich hatte mehr an ein Schicksalsdrama gedacht als an ein
Weihespiel.
Aber sehr eindrucksvoll, Herr Kollege, sehr eindrucksvoll.
Freut mich. Herr Redakteur Saluga - ich darf Ihnen den Herrn
hier gleich vorstellen - hat die Inszenierung besorgt, wie übrigens auch die
Bühnenfassung.
Voigt braucht sein Litauisch nicht erst zusammen zu suchen.
Herr Saluga, wenn mich nicht alles täuscht, aus Siauliai,
nicht wahr. Einige von Ihnen gelieferte Beiträge im Keleivis sind mir bekannt.
Keleivis ist, nebenbei, eine litauische Zeitung, zu Deutsch:
Der Wanderer. Seit Jahrzehnten vorhanden.
Die Herrschaften also werden jetzt ein Gespräch anfangen.
Voigt immer auf Litauisch, Saluga in gewandtestem Deutsch, Storost wechselnd
von Fall zu Fall. Voigt wird von seiner Oper zu sprechen haben und wird sich
Fragen ausgesetzt sehen, auf die wenig Gewisses, zu diesem Zeitpunkt, gesagt
werden kann. Was ihn da nicht im Stich lässt, in diesem Gespräch, ist, vorerst
noch kräftig, die Hoffnung. Aber wird sie sich halten?
Heute noch ja. Und wie lange?
Saluga sagt: Aber das ist doch längst nicht mehr so, Herr
Professor.
Voigt sieht ihn ein wenig verletzt an. Belehrungen wünscht er
wohl nicht. Storost schweigt.
Ich weiß, Herr Professor, Sie meinen die Königsberger und
Tilsiter Bemühungen, damals: ein paar Jahrzehnte und ein bisschen länger.
Kreuzfeld, Rhesa, Passarge, Salopiata, Stiftungen, Gesellschaften, das
Litauische Seminar. Die reinen Linguisten, Ostermeyer, Schleicher, Nesselmann,
Bezzenberger, vorher Daniel Kleins Grammatik, Kurschat übergehe ich jetzt -,
das ist doch alles verschwunden.
Meinen Sie wirklich? Und Kurschat reiner Linguist? Oder
Daniel Klein? Dazu Ostermeyer 1793, Erste Litauische Liedergeschichte: Ein
gelehrter, frommer und für alle litauischen Gemeinden eifrig sorgender, aber
bis an sein Lebensende sehr geplagter Mann, dessen Fleiß und Treue mit einem
Undank belohnt wurde, der kaum seinesgleichen hat, und seinen Neidern und
Verfolgern zu unauslöschlicher Schande gereicht. Das also zu Klein. Und die
andern: Theophil Schultz, Christoph Sappun, Johann Hurtelius, Lehmann in Memel
und Friedrich und Christoph Prätorius? Soviel Mühe.
Gut, ich habe mich falsch ausgedrückt, ich will nichts
herabsetzen, ich habe die größte Hochachtung, wir verdanken ausländischen
Philologen sehr viel, gerade deutschen. Aber jetzt, was bleibt davon jetzt?
Eine Art Volkskundemuseum, - ein imaginäres außerdem.
Ich habe, sagt Voigt gemessen, die Überzeugung, in einer
guten Tradition zu stehen.
Sie tun es, Herr Professor. Herr Professor Storost auch. Aber
werden Sie nicht morgen schon alleine stehen? War das alles doch eher Romantik,
und ist sie vorbei? Weil es seit ein paar Jahren einen litauischen Staat gibt?
Und das Patenkind also nun abgedankt ist? Oder liegt es ganz anders, ging es
nicht um die Integration Litauens und also um seine Auslöschung? Dieser Staat
jetzt, so wie er ist, wird unsere Hoffnungen nicht erfüllen, er sah von Anfang
an nicht danach aus, er ist zu sehr nach alten Mustern geschnitten, und nun:
diese Voldemaras-Leute an der Regierung!
Vielleicht ein Kommunist, dieser Herr Saluga, denkt Voigt,
Gawehn würde sich womöglich ein bisschen fürchten. Und laut sagt er: Die Oper,
an deren Text ich arbeite, wird das Leben des Christian Donelaitis zum
Gegenstand haben.
Herr Professor Storost hat mir schon eine Andeutung gemacht,
und ich überlege und komme zu keinem Ergebnis. Ich finde den Vorwurf so schön
wie reizvoll, wir müssen Ihnen alle dankbar sein, - aber was beabsichtigen Sie
damit?
Eine Oper, sagt Voigt.
Über Donelaitis, stellt Saluga mit Nachdruck fest.
Mich bewegt - Voigt spricht langsam, als müsste er jedes Wort
neu überlegen -, mich bewegt: das Leben, ich weiß nicht, ob es exemplarisch
sein kann, vielleicht nicht, wahrscheinlich nicht: das Leben eines
Dorfpfarrers, ein preußisches Dorf litauischer Zunge, ein deutsch gebildeter
Mann, - der sich einer Sprache bedient, damals, in seinen Werken, die seine
Wirkung doch nur einschränken kann. Oder hat er gemeint, kann er gemeint haben,
seine Bauern würden ihn lesen, wer denn?
Denen hat er gepredigt, ganz kräftig, sagt Storost.
Ja sicher. Voigt hat noch nicht alles gesagt. Ich möchte
wissen, - es heißt immer, er habe resigniert, sich in Krankheiten
zurückgezogen, sich mit Klagen beschieden. Aber so kann es doch wieder nicht
gewesen sein. Die Reinheit der Sitten schwinde mit dem Vordringen der
Deutschen, deutsch - das sei aus Stehlen und Fluchen zusammengesetzt, woketis
aus wogt und keikt, Sie kennen diese Stellen bei ihm. Wie bei meiner Mutter. Da
hieß es: Träumst du von einem Deutschen, steht dir schlechte Gesellschaft
bevor.
Also ein Deutschenfeind, denken Sie, Herr Professor?
Nein, denke ich nicht. Voigt fühlt sich diesem
Journalistentempo nicht gewachsen.
Also etwas anderes?
Jetzt wird Saluga sogar direkt ein bisschen spitz, warum
bloß? Es geht ihm zu langsam.
Ja, sagt Voigt und ist bei der äußersten Bedächtigkeit
angelangt: Er meinte die Herrschaftsverhältnisse.
So ganz einfach, ganz langsam gesagt, von Voigt, beinahe
überraschend, für alle drei.
Und Sie wollen das in Ihrer Oper zum Ausdruck bringen?
Storost ist erschüttert. Er sollte seinen Kollegen umarmen, aber er ist so
erstaunt, dass er es einfach vergisst. Nur dasteht, kein Wort mehr weiß.
Vielleicht stört ihn auch etwas, er weiß noch nicht was.
Voigt hat schon geantwortet: Ja, ich denke.
Und nach einer Weile: Es wäre mir sehr wertvoll, wenn Sie
mich Ihrer Hilfe versichern wollten, Herr Storost. Und Sie auch, junger Freund.
Ein Gespräch. Aber aus lauter Lücken. Was ist schon gesagt
worden?
Alles auf Hoffnung: Diese Oper.
JOHANNES BOBROWSKI, LITAUISCHE CLAVIERE (1965). WERKE 3 S.285-288.
***
SCHAKTARP
Das Memelland, Klaipėdos
kraštas,
oder Mažoji Lietuva,
Kleinlitauen, dankt seine Existenz
dem Vertrag von Versailles, der 1920 die Gebiete nördlich von Memel, Russ und
Skirwiet, Nemunas/Njeman und Skirvytė/Sewernaja,
und nördlich vom Nehrungsort Pillkoppen, Morskoje,
vom Deutschen Reich löst. Ein halbes Jahrtausend, seit der Einigung des
Deutschen Ordens mit Litauens Großfürst 1422, ist dieses Gebiet Teil des
Preußenlands. Mit der Reformation im Preußenland wird es protestantisch.
Zwischen den Großlitauern jenseits der Grenzen und den Preußisch Litthauern
diesseits liegt eine Welt.
Nach Westen, nach Restdeutschland vertrieben wird nach 1945
aus dem Memelland niemand, umso mehr aber werden schikaniert und ostwärts
verschleppt. Das Memelland ist Teil Litauens und damit Teil der Sowjetunion,
und seine Menschen leiden wie allerorten im neu gesicherten Bereich der
sowjetischen Herrschaft. Doch die meisten Memelländer, Litauer und Deutsche,
sind vor der Roten Armee nach Westen geflohen oder in späteren Jahren nach
Deutschland ausgesiedelt. Die wenigen, die blieben, und manche der
Hinzugezogenen knüpfen an die preußenländisch-protestantische Tradition, üben
sich im Zusammenleben der Kulturen und Nationen.
In den Erzählungen Ernst Wicherts, Hermann Sudermanns, Eva
Simonaitytės
und Johannes Bobriwskis erleben wir eine bäuerliche Gesellschaft im Übergang,
eine Gesellschaft des Schaktarp.
„Schaktarp“ ist die Zeit „zwischen den Zweigen“. Es sind jene Wochen, in denen
frisches Eis das Hochwasser des Deltas überzieht oder das Eis im Frühjahr zu
tauen beginnt, zu dünn, um Mensch und Gefährt zu tragen, zu fest, um Booten die
Fahrt zu erlauben.
Schaktarp, das ist
die hohe Zeit der Konventikel, der Surinkimas,
frommer Erweckung auf Höfen und in Weilern, Stunden und Tage des Gebets, des
Gesangs und der Predigt, wortgewaltig und frei bis zur Häresie. Die Kirche lebt
aus der Schrift, auf Distanz, verwaltet die Sakramente, ist deutsch. Das Volk
lebt aus dem Wort, spricht und singt litauisch, die Schöpfung rückt ihm auf den
Leib, das Leben mit dem Tod ist seine feste
Burg. Dies ist das Litauen des Memellands, wie es auch heute gemach
hervortritt. [...]
Vom Fletcherplatz in Tilsit und über die Luisenbrücke hinweg
nahm die Kleinbahn ihren Weg ins Memelland. Wir sind bereits in Tilsit
Professor Voigt aus Bobrowskis „Litauischen Clavieren“ begegnet, der mit
Konzertmeister Gawehn an seiner Donelaitis-Oper arbeitet. Mit der Kleinbahn
wollen sie den Lehrer Potschka in Willkischken besuchen und ihn über litauische
Dainos befragen, die Voigt in seine Oper einzubauen gedenkt. Voigt, in Tilsits
Grabenstraße geboren, der Litauer Potschka aus Willkischen im Memelland - in
beiden findet sich Bobrowski selbst.
Am Vorabend des Johannistages 1936 stuckert die Kleinbahn über
den Strom und das Wiesenland, endlos weit und grün. Im Osten schiebt der
Rombinus sich in den Horizont. Die Gleise der Bahn sind fort, die schmale
Trasse, auch die beiden scharfen Kurven sind geblieben, Litauens Zoll in Übermemel,
Panemunė, ist wieder
da. Die Bahn passiert den toten Arm der Memel, die hier ganz schön
herumwirtschaft. Links biegt die Chaussee nach Šilutė
ab, die wir gekommen sind. Einen Sprung später führt die Chaussee Richtung
Kaunas weiter, über Willkischken, Vilkyškiai,
und Motzischken, Močiskiai.
Hier in Mikieten, Mikytai, wartet der
Zug nach Pogegen, Pagėgiai,
und nach Heydekrug.
So langsam lehrt sich die Bahn: Trakeningken, Trakininkai, Lompöhnen, Lumpėnai, und dann
schon Willkischken. Dort steigen Voigt und Gawehn aus, besuchen den Lehrer
Potschka über dem Saal von Plattners Krug, Blick auf den Gutspark.
Hinter Willkischken nimmt die Chaussee die Kleinbahn huckepack
über den Jurafluss. Jenseits, vom Haltepunkt Motzischken, schlägt sie sich nach
links in die Wälder und in weitem Bogen zurück zum Strom. Dort in
Schmalleningken, Smalininkai, endet
das Preußenland.
Am aufgelassenen Haltepunkt in Motzischken gehen wir von der
Chaussee nach links in den Sandweg hinein. Die verstreuten Häuser sind zumeist
aus Holz, manche bunt, mit Ställen, Veranden, viel Grün, Obstbäumen. Einige
Hofstellen sind abgeräumt. Brunnen und Eiskeller deuten auf vergangenes Leben.
Behelfsbauten nutzen die Lücken. Eine Alte in ordentlichem Haus, Blumen davor,
eine Kuh im Stall, erinnert sich ihres Deutsch, hilft uns zur Orientierung.
Doch keiner der alten Bewohner des Dorfes ist geblieben. Den Neusiedlern sind
die Häuser der Buddrus, der Fröhlich fremd. Fremd ist ihnen auch der Nachbar.
Nach Willkischken, auf den Hof der Großeltern Fröhlich, und
nach Motzischken auf den Altensitz ist Johannes Bobrowski in die Ferien
gefahren, von Königsberg her. Der Altensitz der Fröhlich ist geblieben, mit
Sprossenfenstern und festem Dach, gleich vom Anfang des Sandwegs ein paar
Schritte nach links. Das Gartengebüsch ist abgeholzt, den neuen Bewohnern waren
zuviele Schlangen darin. Im Haus der große gemauerte Herd, die Milchkammer,
davor der Brunnen, dichtbei das hohe Ufer der Jura, die an den Sandberg mit dem
verwilderten Friedhof drängt:
Holzbank, ein
hartes meuble.
Dort, zwischen Kiefernbäumen,
die Schaukel - ein Brett, zwei geschälte
Stangen. Vorbei kommt der Kuckuck,
Blaurake und Wiedehopf,
Nachtigall, die ein Sprosser ist,
kürzer singt, lakonischer,
rauher, gebs Gott.
Aber ich kam zu schlafen
unter der Balkenwand,
Schlaf aus Spinnweb und Krötengold,
fliegenbeinigen Schlaf. Zurück
geht das Licht. Um ihre Schatten herum
tappen die Kühe. Der Fisch
reißt ein schäumendes Zeichen
über das Wasser.
Aber ich schlaf nur.
Ich bin nicht hier.
Ich such eine Stelle,
nur ein Grab breit, den kleinen Berg
über den Wiesen. Von dort
kann ich sehen
den Fluss.
JOHANNES BOBROWSKI, WIEDERKEHR (1960).WERKE 1 S.63.
Motzischken ist Bobrowskis Land, das ferne leuchtet:
Mit dem Fluss
hinab,
dem Wiesenfluss
und den wilden Gerüchen
der Wälder, redend
laut mit dem Sommerlicht
und den Vögeln
gegen den Abend, im Dunkel
den Fledermäusen - im Winkelflug
fuhren sie auf und hinab
um eine Scheuer mit kleinen
Drachenflügeln - redend
kam ich hierher, hier bin ich,
auf dem Sandberg, ins trockne Moos
setz ich den Fuß, den breiten
Himmel hab ich getragen,
die atmenden Lüfte, ich schwanke...
JOHANNES BOBROWSKI, WETTERZEICHEN (1960). WERKE 1 S.98.
Wie in Bobrowskis Erzählung vom „Käuzchen“ gehen wir den Weg
ohne Gräben, der in die Wiesen mündet, vorüber am Hügel, der den Friedhof
trägt. Wo der Fluss wegbiegt, erreichen wir den Hof der Familie Buddrus, sicher
gelegen vor Schneeschmelze und Eisstau, mit Fleiß gesparter Wohlstand. Der
Garten liegt wüst. Vom Vierseithof ist allein das Wohnhaus geblieben, lose das
Dach, Feldsteinsockel, Ziegelmauerwerk, platzender Putz. Ein einsamer Insasse
sammelt Pilze, brennt Schnaps, lebt in den Tag. Vor der Deportation nach
Sibirien hat er sich in diesen verlassenen Hof geborgen, so erzählt er.
Vom Buddrushof holt sich der Soldat Bobrowski 1943, mitten im
Krieg, seine Frau Johanna. Hier werden die beiden getraut. Vom Berliner
Nachkriegsdomizil an der Ahornallee wandern ihre Gedanken hierher:
Die Allee
eingegrenzt
mit Schritten Verstorbener. Wie das Echo
über die Luftsee herab
kam, auf dem Waldgrund zieht
Efeu, die Wurzeln
treten hervor, die Stille
naht mit Vögeln, weißen Stimmen.
Im Haus
gingen Schatten, ein fremdes Gespräch
unter dem Fenster. Die Mäuse
huschen
durch das gesprungne Spinett.
Ich sah eine alte Frau
am Ende der Straße
im schwarzen Tuch
auf dem Stein,
den Blick nach Süden gerichtet.
Über dem Sand
mit zerspaltenen harten Blättern
blühte die Distel.
Dort war der Himmel
aufgetan, in der Farbe des Kinderhaars.
Schöne Erde Vaterland.
JOHANNES BOBROWSKI, DAS VERLASSENE HAUS (1964). WERKE 1 S.207.
Einen Schulweg weiter über die Jura nach Westen liegt
Willkischken, Vilkyškiai.
Die Straße läuft am Fuß eines Hügelrückens rechterhand, auf halber Höhe die
Gehöfte, dahinter die Gärten. Links fällt das Land zu den Wiesen, dahinter
Moor, Strauchwerk, Schilf.
Einige Häuser wagen sich aus dem dörflichen Einerlei: das
Mietshaus des Apothekers, der Lessingsche Krug, zweistöckig unübersehbar,
nackte rote Ziegel. Mächtig wie das Gasthaus ist sein Storchennest. Gleich
nebenan zieht sich das Gehöft der Großeltern Fröhlich von der Straße hügelan:
rechts quergestellt das Wohnhaus, einstöckig, Quaderputz, eine städtisch-breite
Freitreppe, dazu Garten, Scheune und Stall, Türme von gespaltenem Holz. Von
hier sind die Großeltern Bobrowskis nach Motzischken gezogen. Der Gasthof von Wythe am Abzweig zur
Kleinbahn ist wieder zum Gasthof mutiert. Hier bei Wythe huldigen in den
„Litauischen Clavieren“ die Landeskinder Preußisch Litthauens ihrer unglücklichen
Königin Luise. Hier sitzen die Litauerfreunde Voigt und Storost bei Schmand und
Glumse, hier dreht der Naziführer Neumann auf.
Ein Stück weiter an der sich hinziehenden Chaussee, fast am
Ende des Dorfs, siedeln die Honoratioren: links Plattners Krug, wo der Lehrer
Potschka wohnt, dahinter das Gut, benachbart die Kirche, das Pfarrhaus, die
Schule, die Post, das Denkmal des Krieges von 1914/18, mit Stahlhelm, ohne
Schrift. Aus einer Getreidemühle - unser täglich Brot hüfthoch vor dem Altar -
wandelt sich die Kirche wieder zum Gotteshaus. Wir sind in Bobrowskis Arkadien:
Kindheit auf dem Dorf, Abgeschlossenheit, patriarchalische Idyllik, Bilder die
aus Vorzeiten zu uns reichen. Im Gutshaus, Sitz der Amtsverwaltung, weisen
Bildtafeln auf Leben und Werk des Schriftstellers, der von den Sommern seiner
Jugend nicht lassen konnte. Im Spätsommer 1999 öffnet die Kirche ihren Raum
einer Ausstellung zu Texten und Landschaften Bobrowskis; eine Chorbühne aus
Dresden inszeniert den „Wanderer“ dem Dichter zu Ehren.
Am Rombinus
Die alte Straße durchs Memelland legt hin und wieder ihre
gewölbte Pflasterung bloß. Die Chausseebäume sind zum Laubdach geschlossen. An
der Straße aufgereiht Häuser aus wilhelminischer Zeit, schnelle Zubauten auch
und schneller Verfall. Zentralisierte Kolchoswirtschaft hat die Vielfalt der
Flur nivelliert. Die in Wilna beschlossene Privatisierung will nur mühsam in
die Köpfe.
Auf Willkischken folgt Polompen, dann Lompönen, Lumpėnai. Dort
verlassen wir die Chaussee nach links in Richtung Bitėnai,
Bittehnen. Erst Teer, dann Schotter, schließlich nur noch Sand. Das Dorf
Bittehnen, was ist das schon, schreibt Bobrowski in Lipmanns Leib:
Die sieben Gehöfte über der Steigung des Ufers, wie auf einem
Wall. Der ausgefahrene Sandweg kommt an den Steckenzäunen entlang und macht
einen kleinen Bogen auf die Fähre zu. Da stehen die Holzbuden, die dem Zoll
gehören. Ein Stückchen stromabwärts die beiden Dückdalben und die Anlegestelle
für das Dampfboot. Kirschbäume, niedrig, mit geplatzter Rinde. Die vier Stangen
um einen vorjährigen Strohhaufen, das zerbrochene Dach schief zwischen sich. Wo
die Krähen ihre Versammlungen halten. Das Dorf. Und der Tümpel unten im Sand,
von der letzten Überschwemmung, noch immer nicht ausgetrocknet. Das Dorf.
Nirgends is so bunt wie inne Welt, sagen die alten Frauen. Was ist das für ein
Dorf, sagt Rosa Lipmann.
Sie stammt aus der Wilnaer Gegend, wo die Lipmanns auch her
sind, die berühmte Familie, der große Raw von Kowno gehört dazu. Dort um Wilna
herum ist es anders. Sand und Holzhäuser auch, aber die Stadt dann mit den Toren,
Bahnhof und Fabriken und die Pferdedroschken auf Gummirädern, und ihre Leute
haben ein Restaurant. Nur Onkel Neum, der Vorsänger, hat nichts.
Was ist das schon, die sieben oder acht Gehöfte auf dem
Uferwall. Von wo man über den Strom sieht, kilometerweit, bis dorthin, wo der
Himmel hinabreicht auf die Ebene. Oder man blickt zurück, der Straße nach, die
durch die Wiesen gegen den Wald verläuft.
JOHANNES BOBROWSKI, LIPMANNS LEIB (1962). WERKE 4 S.28FF.
Bittehnen: Einzelhöfe locker gestreut und aus Holz, Schöpfe
von Holz, Gärten, Blumen. Auch hier neues Volk in alten Häusern. Wo der Weg von
Lompönen einen zweiten Sandweg kreuzt, biegen wir nach links und an der
nächsten Einmündung erneut nach links. Dort verbirgt sich hinter Büschen und
Bäumen das alte Gasthaus von Bittehnen, ein zweistöckiger Ziegelbau ohne
Ansprüche, zu den beiden Gasträumen geht es von vorn, zur Wirtswohnung vom
Garten. Der steht voller Obst und Blumen. Daneben die Scheune, unten drei Türen
mit Herz, oben die Störche.
Dem Krug sind die Gäste fort. Birute, eine alte Lehrerin aus
Schamaiten, freundlich, gütig, bietet uns Honig und Wasser. Sie hütet in den
Gasträumen ein kleines Museum für Martynas Jankus den Patriarchen der Litauer
im Memelland: Drucker, Redakteur, Verleger und Volkskundler zugleich. Zu Ende
der neunziger Jahre zieht das Museum in die wiedererstandene Druckerei
dichtbei.
Geboren in diesem Dorf Bittehnen, zeitlebens litauischer
Patriot, ist Martynas Jankus zu Kriegsende dennoch mit den Deutschen gezogen,
gleich seinem Landsmann Wilhelm Storost Vydūnas. Das
Bittehner Museum zeigt Bilder und Berichte vom Tod dieses Jankus 1946 in
Flensburg, drüben in Schleswig. Zu Pfingsten 1993 ist seine Urne nun
heimgekehrt wie zwei Jahre zuvor die Urne von Vydūnas, ein
Exempel auf Gemeinsamkeit.
Die Grabtafel für Martynas Jankus auf dem Waldfriedhof von
Bittehnen zeigt die Form einer Tulpe. Aus dem Westen Europas sind die Tulpen
nach Litauen gelangt. Sie blühen auf der zerstörten Hofstelle von Jankus ebenso
wie auf den verwildernden Friedhöfen zu beiden Seiten der Memel. Ihre Zwiebeln
überdauern im Boden, treiben Jahr für Jahr neue Blüten, geduldig, zäh, Kraft
aus dem Verborgenen.
Vom alten Gasthaus fahren wir zurück zur Kreuzung. Dem
Wegweiser „Rambynas kalnas“ folgen wir linksab auf den Waldweg zum Berg
Rombinus. Nach fünfhundert Metern liegt rechterhand der Friedhof von Bittehnen,
eine Lichtung im Wald, eine eiserne Pforte, am hinteren Drittel des Hauptwegs
die Grabtafeln für Martynas Jankus und Storost Vydūnas:
klarlackiertes Holz, eine Tulpe für Jankus, eine Urne für Vydūnas.
Nach nochmals fünfhundert Metern, an einem verzauberten Hof im
Wald vorüber, erreichen wir die Festwiese mit dem Opferstein des Perkun vor dem
Abbruch zum Strom: auf dem Findling das Zeichen des Gediminas, drei senkrechte
Balken auf einer Horizontalen, das Symbol litauischer Unabhängigkeit. Nebenan
ein Podest für die lodernde Flamme. Tief unten schimmern die Wasser der Memel,
des Nemunas. In der Ferne rauchen die
Schlote der Zellulosefabrik von Tilsit, Sowjetsk.
[...]
Am Rombinus streben die „Litauischen Claviere“ Johannes
Bobrowskis ihrem Höhepunkt zu. Hier feiern der Vaterländische Frauenverein der
Deutschen sein Jahresfest und die Litauer ihren Vytautas, an Johanni 1936. Hier
geraten Professor Voigt und Dr. Storost Vydūnas aus Tilsit
und der Redakteur Saluga aus Šiauliai in ihr Gespräch über Litauer und
Deutsche im Preußenland, das gut und gern in die Gegenwart reicht.
Im Memelland war der Rombinus Sammelpunkt und Festplatz für
Litauer und Deutsche; für die Litauer ist er es geblieben. Drüben, in dem über
die Ostsee benachbarten Herzogtum Schleswig, finden wir gleiche Sammelpunkte:
Skamlingsbanken über dem Kleinen Belt für die Dänen, den Knivsberg über der
Bucht von Genner für die Deutschen. Kampf ums Volkstum hat es auch in Schleswig
gegeben. Auch dort datiert die Grenze von 1920. Deutsche und Dänen haben
gelernt, in Frieden miteinander zu leben und im Wohlstand obendrein.
Die „Litauischen Claviere“ enden am trigonometrischen Punkt in
den Stromwiesen unterm Rombinus. Lehrer Potschka erklettert das Gerüst. Von der
Plattform der Landmesser träumt er sich zurück ins preußische Litauen.
Donelaitis stellt sein drittes Clavier fertig, singt und spielt mit seinen
Amtsbrüdern aus Mehlkehmen und Walterkehmen, Anna Regina bringt ihnen Kaffee.
Als Verlobte des Lehrers ruft sie ihren Potschka in die Gegenwart:
Potschka, sagt das Mädchen. Potschka, komm wieder. Das von
früher, das geht nicht mehr.
Kein Turm. Potschka öffnet die Augen. Kein Turm. Die Lichtung
nicht. Nur das Rauschen, das geht in den Bäumen umher.
Hingehen, das geht nicht mehr. Hingehen nicht.
Jetzt spricht er, langsam, mit einem Mund, der das Sprechen
erlernen, mit einer Stimme, die ihre Laute noch finden wird, heute oder morgen:
Herrufen, hierher. Wo wir sind.
JOHANNES BOBROWSKI, LITAUISCHE CLAVIERE (1965). WERKE 3 S.331.
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